Marie Rotkopf : Finishing the Job. Anmerkungen zur deutschen Kontinuität und zum europäischen Mythos
Bevor ich euch, avec un très grand plaisir, für das deutsch-französische Festival LIAISONS meine heutige Gedankenprosa vorlese, würde ich gerne unterstreichen, wie die permanente Kritik, weitervererbt von den Situationisten, für mich wichtig bleibt. Diese Kritik, die die politischen und philosophischen Verhältnisse benennen will, bedeutet manchmal Einsamkeit, weil sie immer für das Benennen arbeitet. Ebenfalls setzt sich diese permanente Kritik immer für das Leben ein. Sie ist das Leben.
Es handelt sich hier um eine Kritik an der deutschen Dominanz in Europa, um zu zeigen, wie sehr der «deutsche Geist» wie auch die sogenannte Leitkultur sich durch sein Kontinuum verrät. Ich möchte ebenfalls betonen, dass dies ein poetischer Akt ist. Nicht weil ich meinen Diskurs irgendwie abmildern oder verschleiern möchte. Nicht weil ich etwa Angst hätte. Oder vielleicht doch. Sondern weil ich verzweifelt bin. Weil ich von Deutschland überfordert bin.
Und wie Vladimir Jankélévitch 1956 und 1971 in seinem Buch* Verzeihen?* es mutig wieder in Erinnerung brachte, das was eine Evidenz sein sollte, und immer noch, 2018, unterdrückt wird, im Namen der Nivellierung der Ansichten unserer nicht-fortschrittlichen westlichen Gesellschaften:
…. Es ist ein Verbrechen, für das ein ganzes Volk mehr oder weniger verantwortlich ist, und dieses Volk hat im übrigen einen Namen, und es gibt keinen Grund, den Namen dieses Volk nicht zu nennen oder dem seltsamen Schamgefühl nachzugeben, das es heute verbietet, ihn auszusprechen.
Wenn Sie möchten, können sie das Wort Volk durch Bevölkerung ersetzen.
Nichts hat sich verändert, vielleicht ist es sogar gefährlicher geworden, einfache Sachen zu erkennen und unverzüglich muss ich bekannt machen: ich denke nicht, dass die Welt komplex ist. Das ist eine neoliberale Lüge. Es zählt nur die Macht und ja, ich spreche über den Deutschen und meine tiefen Gedanken richten sich an alle widerständigen Deutschen, die, - wie gestern die Commune von Paris 1871 von der preussisch-deutsch-französischen Armee niedergeschlagen worden ist-, heute noch, ausgeschlossen sind, im Gegensatz zur neuen deutschen Rechten.
Jetzt sind wir soweit. In Europa.
Ich würde weinen, aber ich habe eine deutsch-französiche Familie: Ich muss diesen Text, Finishing the job, mit den Worten von Heinrich Heine anfangen. "Sérieux comme un Allemand mort la veille" ist in Frankreich ein sehr bekanntes Zitat von Heinrich Heine, aus Die romantische Schule, drittes Buch, von 1835. D'ordinaire, Arnim est sérieux, sérieux comme un Allemand mort la veille.
Ernsthaft, und zwar wie ein toter Deutscher. Ein lebendiger Deutscher ist schon ein hinlänglich ernsthaftes Geschöpf, und nun erst ein toter Deutscher! Das sagt er also eigentlich über den Spätromantiker Achim von Arnim, ebenfalls Proto-Nazi, der, wie WIR wissen, 1811 mit anderen Romantikern wie Clemens Brentano, die „christlich-deutsche Tischgesellschaft“ gegründet hat und dort seine bekannte Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums gehalten hat. In einem "wissenschaftlichen Experiment", das an imaginierter Gewaltsamkeit und sprachlicher Brutalität kaum zu überbieten ist, soll etwa ein von Arnim so genannter "reiner Jude" durch den Prozess chemischer Analyse gewonnen werden – also durch Verbrennung.
Aber was mich im Wahrheit hier interessiert, ist, dass Heine dann beifügt: Ein Franzose hat gar keine Idee davon, wie ernsthaft wir erst im Tode sind; da sind unsere Gesichter noch viel länger, und die Würmer, die uns speisen, werden melancholisch wenn sie uns dabei ansehen. Heine schließt sich ein. Er ist auch ein Deutscher. Er will nicht aufgeben. Ich liebe ihn. Er hat sich so gut angepasst, und deswegen will ihn die deutsche Gesellschaft nicht, immer noch nicht, deshalb nicht, er muss nach Paris flüchten, er ist zensiert, er kennt sie alle, er weiß Bescheid, sie werden ihn nie wollen, wie die Juden heute, die sich jetzt in Berlin desintegrieren wollen, wie die Türken, die plötzlich nicht mehr zur EU gehören dürfen (weil sie nur halb so interessant sind… nicht wie heute die Ukraine...), sie werden sie alle nicht wollen. Deshalb ist es schon lange keine Frage der Integration mehr, sowieso, und für niemanden.
Et donc, ich liebe ihn, weil er dickköpfig ist, weil er auf der Seite des Lebens ist. Obwohl es zu spät ist, da die Franzosen in Frankreich schon lange die Fabelhafte Welt der Germaine de Staël bevorzugen und gewählt haben. Denn Die Romantische Schule und anderen Schriften über Deutschland war von Heine eine Replik auf Germaine de Staël De l'Allemagne, 1810 von eine netten Frühfeministin geschrieben, die trotz allem leider, in ihrer Blase gelebt hat.
Dass Heine verloren hat, das wissen wir alle. Auch Konrad Adenauer wollte von ihm nichts hören und bezeichnete ihn als einen romantischen Dichter. Konrad Adenauer, der seit dem 50sten Jubiläum des Elysée-Vertrages ein passiver Widerstandskämpfer geworden ist, musste ich 2013 mit Hilfe des deutsch-französischen Senders Arte lernen. Und dies obwohl er 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat.
Ce qu'il ne faut pas entendre au nom de l'amitié franco-allemande !
Mais je tombe invaincu, et mes armes Ne se sont pas brisées - Mon cœur seul s'est brisé.
Das war meine Widmung an Heine, meine deutsch-französische Liebe.
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Jetzt kommt die Einführung mit Musik:
(Lied von Snap - I've got the power!)
1990 the Power von Snap
1990, das ist mein Lieblingslied, ich tanze dazu in meinem Zimmer in Paris, vor meinem Spiegel. Einige Wochen später werde ich alleine ein Jahr in Plön leben, eine kleine Stadt in Schleswig-Holstein. Bis dahin, während meine Eltern schlafen, klettere ich aus dem Fenster, um in die Discos auf den Grands Boulevards zu gehen, ich tanze zu The Power, meine Augen sind geschminkt.
2018 schminke ich mich ab, zufällig beim recherchieren im Internet entdecke ich, dass Snap ein deutsches Studioprojekt ist, von Michael Münzing und Luca Anzilotti erfunden, ein Musikproduzenten-Duo aus Frankfurt.
Der Welthit* The Power*: Der Rap, der Anfang des Liedes und der Rhythmus, kamen von einer Aufnahme des Amerikaners Chill Rob G. (der später erfolglos gegen die Frankfurter klagte), die Samples wurden ohne Genehmigung aufgenommen, die Melodielinie entlieh man einem alten Police-Stück, und Münzing und Anzilotti mischten noch eine Soulstimme dazu. Snap war geboren - und ein neues Genre:_ Eurodance_. Eurodance - von den Deutschen erfunden.
Und wer hätte gedacht, dass die beide Männer bessere Rechtsanwälte hatten, als der amerikanische Musiker?
Wie viel verdienen Sie pro Lizenz? fragte vor zehn Jahren die Süddeutsche Zeitung. Dazu nur so viel, antwortete Münzing: das Stück kann unsere Familien bis ans Lebensende ernähren. Und wahrscheinlich auch die Familien unserer Enkel und Urenkel. Denn damit kann man alles verkaufen, sagen Fachleute aus der Werbebranche.
Armer Chill Rob G., der Ami-Rapper, der schwarze Freund, der durch sein Lied die Rechte der Schwarzen verteidigen wollte, und von Deutschen beschissen wurde. Die Ironie der Ironie ist, dass Snap für ihr Musikvideo die Bilder anderer schwarzer Musiker benutzt haben, aber tatsächlich den Songtext änderten. Und so klingt es dann bei den Frankfurtern: Don't need the police to try to save them Your voice will sink so please Stay off my back, or I will attack And you don't want that I've got the power!
Die Ironie der Ironie kann also Zynismus sein, aber nicht immer. Ab und zu bleibt es nur Ironie, wie neulich in Hamburg, die erste oder zweit reichste Stadt Deutschlands.
- Oktober 2018, Didier Éribon spricht im Kunstverein Hamburg im Rahmen der Ausstellung Klassenverhältnisse - Phantoms of Perception, vor der Vernissage.
Vor einem extrem vollen Saal, erklärt er lange mit interessanten Beispielen, wie schädlich diese Verleugnung der Existenz der Klassen und deren traurigen Unterschieden sei. Wie es en vogue war, bei den sogenannten Eliten, dies geleugnet zu haben, jahrelang. Und wie sehr diese Existenz, diese verschwiegene Ungerechtigkeit überall auf der Welt, überall in Europa, zu sehen ist. Ich finde es sehr gut und genieße es, dass er für uns ausgebildetes privilegiertes Publikum, jung und alt, Klartext redet. Bettina Steinbrügge, die Direktorin des Kunstvereins, immer perfekt angezogen wie eine Pariserin, von Kopf bis Fuß mit teuren Marken, hatte eine schöne Idee, ihn eingeladen zu haben. Und in diesem White Cube, diesem Ort der zeitgenössischen Kunst, dieses bourgeoise-Pop-Wunschtraum-Land, der alles neutralisiert, noch besser transformiert, finde ich es die Ironie der Ironie, welche ich kenne, seit ich ein Kind bin, umgeben von der Institutions - und Kunstmarktkunst, die Eliten unter sich, die sich dadurch ein gutes intellektuelle Gewissen verschaffen.
Surprise. Er sagt es. Didier Éribon sagt es. Das sagt er im Kunstverein HH.
Er betont auf Englisch, sehr deutlich mit seinem starken französischen Akzent (endlich kann ich alles verstehen), daß Emmanuel Macron ein Monstrum ist. Er sagt, das Monstrum ist der Kapitalismus und das Monstrum ist der Neoliberalismus.
Ich frage mich, ob die Leute, die da vor mir sitzen, die ich vom sehen kenne, die sehr reichen Hamburger und deren Frauen, die selbst Künstlerinnen oder Mitgliederinnen des Vorstands sind, sein einfaches mit französischem Akzent vorgetragenes Englisch verstehen. Ja, und sie scheinen erstaunt zu sein, aber mehr zeigten sie nicht. Er betont, wie die „Entproletarisierung“ durch den Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte in England, Deutschland, Frankreich eine Katastrophe ist. Er sagt, wie wir dafür heute zahlen. We pay for it. Wir müssen rasch widerstehen. Wir müssen klar erkennen, dass die AfD, oder le Rassemblement national Symptome sind. Dieses Symptom ist das Ergebnis von sozialdemokratischer und grüner Politik, Ergebnis von Marktradikalismus, Privatisierung, Sozialabbau und der Umverteilung des Reichtums von unten nach oben.
Die Hauptkrankheit ist der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Ausprägung.
Und das sagt er vor all den Deutschen im Saal. Er schließt über unsere indivisibilité – Unteilbarkeit, wiederholt dass er ein Internationalist ist, für Mélenchon gewählt hat, aber seinen linkspopulistischen Versuch mit Chantal Mouffe bedauert, und insistiert auf der Wichtigkeit der Egalität, des Feminismus, der Rechte der Homosexuellen und des Antirassismus. Da bemerke ich dass Nounou, der Ehemann von meiner Künstlerfreundin Carola, ein Nigerier, nicht gekommen ist. Es gibt keinen Schwarzen im Saal.
Ich denke, als ich den Kunstverein unter strömendem Regnen verlasse und dann in die U-Bahn einsteige: noch ein Mann, den ich liebe.
Zu Hause, ein paar Wochen später, lese ich in der Zeitschrift Monopol ein Interview mit Bettina Steinbrügge, die eine sympathische Initiative unterschrieben hat: „Erklärung der Vielen“, ein Bündnis der deutschen Kunstinstitutionen gegen Rechts, gegen die AfD. Ich finde es mutig. Ich weiß auch genau warum, da in keiner Zeile erwähnt wird, dass der Neoliberalismus daran mitschuldig ist. Am Ende sagt sie sogar „Die Kunst hat keine Wirtschaftsmacht, aber laut auszusprechen, dass man gegen diese rechten Tendenzen ist, finde ich richtig und wichtig.“. Ja, ich auch. Allerdings ist es absolut falsch, dass die Kunst keine Wirtschaftsmacht hat. Sie besteht fast nur aus Wirtschaftsmacht, und ich hoffe und denke, dass sie dies weiß.
Didier Éribon, ein Franzose, sagt es, aber einem Deutschen mit ein wenig Machtposition verbrennt es sofort die Zunge.
Ich erinnere mich deprimiert an Gegen den Hass von Carolin Emcke und weiß ebenfalls, wie groß das Missverständnis zwischen den beiden am Anfang hätte sein können:
Carolin Emcke schafft es auf keiner Seite in ihrem Buch, die Ursache zu benennen.
Warum ist das in Deutschland tabu, um ein Adjektiv der Psychoanalyse zu benutzen?
Nicht wegen der Reeducation. Sondern weil sie durch das mediale Bild der vermeintlich liberalen USA geblendet ist.
Es gibt zwei Dinge, die Schlüssel sind, für die Türe, die in Deutschland nie offen stehen soll:
erstmal muss man konstatieren: die Deutschen werden Auschwitz den Juden nie verzeihen und wie es der Historiker Emmanuel Todd - den ich heiraten würde - schon ein paar Mal unterstrichen hat: wer hat den II. Weltkrieg gewonnen? Ein wenig die Engländer, ein wenig die Amerikaner, viel die Russen. Nicht nur wegen Stalingrad, sondern auch weil die Rote Armee Auschwitz befreit hat.
Übrigens muss ich hier ein Klammer setzen: vor ein paar Jahren gab ich interkulturelle Kommunikations-Workshops, um zu jobben, da ich als Künstlerin nicht genug verdiene, und die Schule, wo sie stattfanden, war in Hamburg-Volksdorf. Jedesmal, - es gab nur diesen einen möglichen Weg, der auf keinen Fall ein Holzweg war - ging ich am Seniorenheim vorbei, wo Gerhard Sommer lebt, vor der Arbeit. Der Weg der Realität - dass es über die Erfindung der Entnazifizierung kein Missverständnis geben kann. Er überlebt einen anderen Mann, den ich liebe, Jacques Lanzmann, und auch Eike Geisel, der uns Die Wiedergutwerdung der Deutschen gegeben hat. Wir wissen alle, dass man einem Versöhnungsdiskurs nicht folgen kann, wonach es zwischen Frankreich und Spanien und Italien und Deutschland keine Unterschiede gäbe und der Nazismus überall hätte passieren können.
Mehr als in allen anderen Ländern, ist die Frage in Deutschland die der Klassen. Der Stände. Das füge ich bei.
Seit dem der Osten annektiert wurde, ist nur eines wichtig. Kein Rotkopf. Pas de Rouge.
Lieber tot, als rot.
Wie bei Heinrich Heine, ist die Sache nicht komplex, jeder an seinen vorherbestimmten Platz. Jeder soll auf seinem Platz bleiben. Martin Luther und Immanuel Kant haben es in Stein gemeiselt. Man darf die Pflicht zum Gehorsam nicht in Frage stellen. Die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit sind kein Problem an sich. Sie ist als eigentlicher und verinnerlichter Wert einer funktionierenden und effizienten Gesellschaft unabdingbar.
Für die charmanten Franzosen kann man jedoch ein paar Ausnahmen machen. Keine Ausnahmen, Konzessionen. Solange sie an Ihrem Platz bleiben. Die Präsidenten sollen kommen und gehen, dafür dürfen sie sich für Napoléon oder Louis XIV halten, das mögen sie so sehr. Sie dürfen sich wie die Könige der Luxus-Mode-Industrie benehmen. Coquetterie ist erlaubt. Es ist sogar hoch angesehen. Wichtig ist auch, dass die Franzosen denken, dass die Idee der EU, die Idee eines friedlichen Europas, von Ihnen kommt, dafür ist die deutsch-französische Freundschaft da. Sie kennen wahrscheinlich einen von meinen Lieblingsfilmen, Brust oder Keule des sephardischen Regisseurs Claude Zidi und die wunderbare Szene wo Louis de Funès alias Duchemin zu Michel Drucker, dem bekannten Fernseh- Moderator, sagt, um sich abzusichern, dass Tricatel die Debatte annehmen wird: Jeder sagt eigentlich das Gleiche an den Moderator: il faudrait qu'il ait l'impression que l'idée vienne de lui.
Das ist das Schönste an der EU. Jeder denkt, die Idee dazu kommt jeweils aus seinem Land, und die Bevölkerungen glauben dies ebenfalls.
(Marie Rotkopf, Auszug aus "Finishing the Job", Oktober 2018)